Vorwort
In jedem Lexikon steht zu lesen: "Die Chemie ist die Lehre von
den Eigenschaften der Substanzen und deren Umwandlungen." Der
in diese Lehre Nichteingeweihte hört davon mit Schaudern, in neuerer
Zeit sogar immer mehr mit Ablehnung. In den Schulen steht das Fach
Chemie an nahezu letzter Stelle der Beliebtheitsskala, es wird
für schwierig und undurchschaubar gehalten. Für den Neuling,
sei er auch noch so neugierig und lernbereit, wird nach erstem Kennenlernen
das Fach Chemie immer schwieriger, obwohl es Chemiebücher für
Anfänger in Hülle und Fülle gibt.
Woran liegt es wohl, daß Schüler der Sekundarstufe Chemie
als ein Horrorfach empfinden? Welches sind die Gründe dafür,
daß Studenten des Maschinenbaues, der Elektrotechnik oder des
Bauingenieurwesens womöglich am Fach Chemie scheitern? Diese Frage
hat die nahezu dreißigjährige Lehrtätigkeit der Autoren
ständig begleitet, die Lehrtätigkeit sowohl im Bereich von
Industrie und Hochschule als auch bei Schülern und Schülerinnen
der Sekundarstufe unserer öffentlichen Schulen. Die Antwort ist
zu finden, wenn man sich die Geschichte der Chemie ansieht und einen
Augenblick zurückschaut. Es sind sehr alte
Erfahrungen der Menschen, daß Eisen rostet und Kohle brennt.
Eine Substanz verändert sich oder verschwindet scheinbar ganz.
Gemäß dieser und vieler anderer Erfahrungen haben Alchimisten
und Chemiker dann Experimente geplant und ausgewertet, ihre Beobachtungen
in Systemen geordnet und sogar mit geheimwissenschaftlichen, undurchschaubaren
Formeln und Symbolen beschrieben. Jeder Chemiker wie jeder Laie hat
aber in früheren Zeiten immer nur die Substanz in der für
uns Menschen zugängigen Gestalt wahrnehmen können: einen
vielbegehrten Gold-Nugget, rotbraune Kupferkristalle, klares Wasser
in einem Glas, weiße Zucker- oder Kochsalzkristalle. Heute nennen
wir dies die makroskopische Erscheinung der Substanzen. Das Rosten
des Eisens und die Verbrennung der Kohle zeigen also Veränderungen
der makroskopischen Eigenschaften dieser Substanzen an.
Eine eindeutige Beschreibung, Ordnung, Übersicht und Systematik
der Substanzen und deren Umsetzungen ist jedoch allein anhand der
makroskopischen Erscheinungen nicht möglich. Die moderne Wissenschaft
Chemie mit ihrer Systematik hat deshalb ihre Wurzeln nicht in der chemischen
Koch-kunst des Labors, sondern in der Philosophie! Die Tragik des Faches
Chemie liegt darin, daß diese Erkenntnis für die Lehre an
Hochschulen und für Chemieunterricht an Schulen völlig verlorengegangen
ist.
Worin besteht nun das Wesentliche dieser der Chemie zugrunde liegenden
Philosophie? Einige griechische Philosophen hatten einen uralten Traum.
Sie wollten die Welt und ihre vielfältigen Erscheinungen einheitlich
anhand der Kombination von Grundbausteinen deuten. Sie wollten die
Welt zusammensetzen, wie heute ein Kind seine Welt mit LegoBausteinen
baut. Diese Bau-kasten-Philosophie haben die Chemiker zu Beginn des
19. Jahrhunderts übernommen, weil sie sich am besten zur Interpretation
der Beobachtungen an vielen Materialien und deren Umwandlungen erfolgreich
anwenden ließ.
Als Grundbausteine werden heutzutage kugelförmige Atome und Ionen
angenommen und Substanzen als Kombinationen unzählig vieler Atome
oder Ionen zu einem Teilchenverband beschrieben. Damit setzt der moderne
Chemiker die Tradition der alten Philosophie fort. Insofern muß er
seine Substanzen neben der makroskopischen Erscheinung in eine mikroskopische
Welt umdeuten: Er muß sich ein Stück Gold, Eisen oder Kohle
als systemati-sche Verknüpfung kleinster Teilchen vorstellen können.
Obwohl der Chemiker im Labor experimentiert und Substanzen beobachtet
- die kleinsten Teilchen sieht er nicht! Er sieht eigentlich nichts
von dem, was für ihn wichtig ist - deshalb müssen die kleinsten
Teilchen den Chemiker in der Vorstellung und Phantasie ständig
beim Experimentieren begleiten.
Auch der Quereinsteiger muß zunächst in diese gedachte Welt
der winzigen, unsichtbaren Teilchen eintauchen. Dann wird er folgerichtig
viele Fragen des Alltags und der Technik deuten, womöglich voraussagen
können. Warum wirft sich der Rost am Auto unter dem Lack als
Beule? Warum kann man chemisch aus Blei kein Gold herstellen? Warum
schwimmt Eis auf dem Wasser? Wie funktioniert das Abbinden des Gipses?
Viele Substanzen werden heutzutage bereits aufgrund der Philosophie
der mikroskopischen Teilchen gezielt angefertigt, um bestimmte Eigenschaften
der Materialien zu erhalten: angefangen von Gläsern mit bestimmten
Eigenschaften der Lichtbrechung, über korrossionsfeste Werkstoffe
mit bestimmten Härten, bis hin zu Arzneimitteln. Überall
ist Phantasie und Vorstellungsvermögen gefragt.
Hier liegt die größte Schwierigkeit für den Anfänger.
Insofern soll diese Buchreihe das Vorstellungsvermögen und die
für die Chemie benötigte Phantasie entwickeln, stärken
und trainieren. Zu diesem Zweck werden zunächst nur Substanzen
vorgestellt und in eine mikroskopische Betrachtungsweise übertragen.
Dazu gehört das systematische Anordnen und Kombinieren der kleinsten
Teilchen im Raum. Solche Teilchenkombinationen im Raum nennt man chemische
Strukturen. Für den Lernprozeß ist es nun unbedingt erforderlich,
diese Strukturen mit Hilfe von Strukturmodellen zu verstehen: am besten
ist es, der Anfänger baut sie sich mit im Handel erhältlichen
Kugeln selbst oder mit bereits vorgefertigten Bauteilen eines Modellbaukastens.
Entscheidend ist für den Anfänger und Quereinsteiger, daß sich
die chemische Symbolik, die der Chemiker in Form von Formeln und Reaktionsgleichungen
für seine Substanzen verwendet, direkt und klar aus der Struktur
entwickeln und ableiten läßt. Dies wird für alle behandelten
Substanzen konsequent gezeigt, so daß sich der Neuling rasch
und sicher mit der chemi-schen Symbolsprache vertraut machen kann.
Die Frage, inwieweit man die Bindekräfte zwischen den Bausteinen
auf Ursachen zurückführen und zu begründen versucht,
soll zu Beginn völlig in den Hintergrund treten - lediglich die
Wirkungen der Kräfte sind in erster Linie von Bedeutung. Beschreibende
Rechenverfahren der Wellen- und Quantenmechanik werden aus guten Gründen
in diesem Rahmen nicht verwendet.
Da zu Beginn dieser Einführung in das Fach Chemie bewußt
keine Fragen der chemischen Bindung, sondern vorzugsweise Strukturfragen
behandelt werden, nennen wir dieses Konzept strukturorientiert. Aus
der Struktur wird dann in einem zweiten Schritt die chemische Reaktion
als Umgruppierung der Teilchen gedeutet.
Die Stoffauswahl aus den bislang bekannten und hergestellten circa
12 Millionen Substanzen ist exemplarisch. Die durch uns ausgewählten
Substanzen sollen die wichtigsten Grundlagen der Teilchenkombination
und Teilchenumgruppierung aufzeigen. Für spezielle Fragen zu
Eigenschaften besonderer Substanzen und der gesamten "Stoffchemie" sei
auf die bekannten Lexika der Chemie hingewiesen.
Die Buchreihe wendet sich an alle, die von makroskopischen Kenntnissen
vieler Substanzen herkommend in die moderne mikroskopische Chemie einsteigen
oder aus anderen Fächern "quereinsteigen" wollen: Ein
Querein-stieg ist deshalb in einen beliebigen Band der Buchreihe möglich,
weil die Struktur der dort behandelten Stoffe nachgebaut und deshalb "begriffen" werden
kann. Das Konzept ist zunächst für Studenten und Studentinnen
der technischen Berufe entwickelt worden: für Maschinenbauer,
Versorgungsingenieure, Feinwerktechniker, Bauingenieure, Elektrotechniker.
Es soll aber auch den interessierten Schüler oder die motivierte
Schülerin ansprechen und jeden, der sich im Nebenfach für
Chemie interessiert. Weiterhin hoffen wir, daß viele Chemielehrer,
die den Lehrerfolg ihres Faches optimieren wollen, nützliche Anregungen
aus der Buchreihe entnehmen können.
Im ersten Band wird das Periodensystem als "Teilchenbaukasten" mit
den dazugehörenden allgemeinen Kombinationsregeln vorgestellt.
Die speziellen Teilchenkombinationen zu Metallkristallen, zu Molekülkristallen
und Ionenkristallen finden sich in den weiteren Bänden.
Wenn die Strukturen wichtiger Stoffgruppen in einem ersten Abschnitt
studiert worden sind, soll in einem zweiten Abschnitt die chemische
Reaktion als Umgruppierung von Strukturen interpretiert werden. Sind
die an der Reaktion beteiligten Strukturen aus dem ersten Abschnitt
bekannt, wird auch ein Quereinstieg in die Welt der chemischen Reaktionen
möglich.
In diesem Sinn viel Spaß beim Studium der Chemie auf strukturorientiertem
Wege.
Münster und München im Januar 1997
Hans-Dieter Barke Dieter Sauermann