Einleitung
Die Chemie als Kind der Philosophie
Seit Jahrtausenden machen sich Menschen Gedanken darüber, wie
unsere Welt entstanden ist, welche Gesetzmäßigkeiten in
ihr gelten und welche "ordnende Hand" wohl diese Gesetzmäßigkeiten
erschaffen hat. Die Frage der "ordnenden Hand" stammt unmittelbar
aus dem religiösen Bereich und aus dieser Quelle entspringen direkt
die Fragestellungen, mit denen sich auch heute noch die moderne Chemie
befaßt. Das mag zunächst befremdend klingen, wenn man an
alle die komplizierten Apparaturen in den chemischen Laboratorien denkt.
Die Chemie, heißt es häufig, sei die klassische Wissenschaft
von den Materialien, den Substanzen, den Substanzänderungen, sie
habe deshalb wie keine andere Wissenschaft das Experiment als Grundlage,
Labor und Experiment stünden für alle Arbeiten an erster
Stelle.
In der Chemie wird zweifellos viel und umfassend experimentiert. Das
Experiment besitzt aber immer einen strengen gedanklichen Hintergrund,
es soll helfen, Entscheidungen über die Theorien herbeizuführen,
sie bestätigen oder nicht. Ausschlaggebend für die Arbeit
des Chemikers ist also nicht das Experiment allein, sondern nach wie
vor das entsprechende theoretische Gedankengebäude..
Die Menschen haben bereits seit Jahrtausenden mit vielen Substanzen
experimentiert. Das Feuer, die Keramik, die Herstellung von Kupfer
und Bronze, das Färben mit Purpur sind Beispiele dafür. Aus
dem alten Ägypten ist sogar eine Galvanisiermethode zur Vergoldung
von Kupferfiguren bekannt. Und trotzdem waren all diese geschickten
Leute, die diese handwerklichen Fertigkeiten beherrschten, keine Chemiker:
ihnen fehlte dazu das übergreifende theoretische Gedankensystem.
Dieses System begann erst mit einer Reihe von hervorragenden Denkern
heranzureifen, mit den griechischen Philosophen in der Zeit etwa 600
- 350 v. Chr. Man nennt diese Naturphilosophen auch "Vorsokratiker",
zu ihnen zählen Thales, Anaximenes, Heraklith, Empedokles, Leukipp,
Demokrit u. a.. Sie alle haben die Vielfalt der Natur bestaunt, beobachtet
und untersucht. Die Grundfrage lautete immer, ob sich die große
Vielfalt von Substanzen und Erscheinungen nicht aus einigen wenigen
Dingen zusammensetzen ließe.
Thales sah den Urstoff im Bild des Wassers und wollte alles daraus
zusammengesetzt wissen, Anaximenes analog dazu alles aus Luft und Heraklith
aus Feuer. Empedokles zog für diese schwierige Aufgabe sogar vier
Grundprinzipien heran: Wasser, Feuer, Luft und Erde, er nannte sie
Elemente. Durch Kombination dieser Elemente wollte Empedokles dann
seinen Kosmos aufbauen: "Aus der ersten Mischung der Elemente
habe sich die Luft abgesondert und ringsum im Kreise ausgebreitet.
Nach der Luft aber sei das Feuer hervorgebrochen". Und weiter
kann man bei den Naturphilosophen lesen: "Die Mischung der Elemente
nach Empedokles muß eine Vereinigung sein wie eine Mauer, die
aus Ziegelsteinen zusammengefügt ist; und diese Mischung wird
aus den Elementen bestehen, die als solche unverändert bleiben,
aber in kleinen Teilchen nebeneinander gefügt sind, und ebenso
ist es mit der Substanz des Fleisches und jedem anderen Stoff".
Demokrit hat ein Baukastensystem entwickelt und zusammen mit seinem
Lehrer Leukipp so verfeinert, daß er kleine unteilbare Teilchen,
die "Atome", dem Aufbau der Materie zugrunde legt: "Sie
nehmen die Atome als Materie für die Dinge an und lassen alles
andere aus deren Unterschieden entstehen. Diese aber sind drei: Gestalt,
Lage, Anordnung".
Dieses Baukastensystem wurde später vom einflußreichsten
Philosophen jener Zeit, von Aristoteles, verworfen. Seine Schüler
haben es weiterhin bekämpft, dann wurde es vergessen. Erst nach
nahezu zweitausend Jahren, als der Einfluß der Lehre von Aristoteles
zurückging, wandten sich die Wissenschaftler der Frage nach dem
Baukastensystem der Natur erneut zu. Die Anzahl der Atomsorten, der
Elemente, wurde im Zuge der experimentellen Befunde erweitert, die
Lage der Atome im Raum konnte tatsächlich empirisch zugänglich
gemacht werden.
Heute muß jeder Chemiker den Bestand an verfügbaren Bausteinen
und das System, wie diese zu kombinieren sind, kennen. Der moderne
Chemiker ist damit auch der Nachfolger der alten Naturphilosophen.
Dokumentiert wird es dadurch, daß die Chemie noch im ersten Viertel
dieses Jahrhunderts zur philosophischen Fakultät der Universitäten
gehörte. Damals wie heute ist der Chemiker gezwungen, seine Gedanken
und Theorien mit den Erscheinungen und Beobachtungen in der Natur in Übereinstimmung
zu bringen. Deutungen von Substanzen und Reaktionen, die der Naturbeobachtung
widersprechen, werden nicht zugelassen.
In den folgenden Kapiteln soll nun das Teilchenkombinationssystem beschrieben
werden, das Grundlage und roter Faden dafür ist, wie Chemiker
heute denken und Beobachtungen interpretieren. Dabei steht vorerst
die Beschreibung der Substanzen und das Beschreibungssystem gegenüber
dem Experiment im Vordergrund. Bei Kenntnis der systematischen Chemie,
die noch von dem großen Chemiker Leopold Gmelin "als reine,
theoretische, philosophische Chemie" bezeichnet wird (1817), ist
die experimentelle Chemie dann leicht zugänglich: "Die philosophische
Chemie ist die Wissenschaft, die experimentelle Chemie die Kunst",
so Gmelin.
Der Chemie als Wissenschaft liegen viele philosophische Aussagen zugrunde.
Der englische Chemiker John Dalton hat 1808 in seiner Schrift "A
New System of Chemical Philosophy" folgende Aussagen über
Atome als die kleinsten Teilchen der Materie gemacht:
1. Alle gleichen Teilchen verhalten sich im Weltall gleich.
2. Es gehen keine Teilchen verloren; sie können weder aus dem
Nichts entstehen, noch können sie sich ins Nichts auflösen.
3. Die Art des Zusammenbauens von Teilchen ist gesetzmäßig
wiederholbar und führt zu bestimmten Substanzen.
4. Substanzen unterscheiden sich durch die Art und Anordnung ihrer
kleinsten Bausteine.
Mit vielen weiteren philosophischen Leitsätzen und Betrachtungen
werden wir uns noch in den kommenden Kapiteln auseinanderzusetzen haben.